Denn Tiere sind keine Maschinen

Rezension zum neuen Buch von Hilal Sezgin

von Admin, am 24.03.2023.

Seit gestern ist das neue Buch von Hilal Sezgin im Handel erhältlich und wir durften es schon eine Woche früher lesen. Wie es Jens gefallen hat, erfahrt ihr im folgenden Text:

Die gute Nachricht zum Anfang dieses Textes ist, dass Hilal Sezgin ein neues Buch geschrieben hat, noch besser wird das Ganze dadurch, dass die Stiftung Hof Butenland vor der Veröffentlichung ein Leseexemplar bekommen hat, und die Tatsache, dass ich das Werk rezensieren darf, perfektioniert das Ganze dann. Ich bin nämlich ein erklärter Fan dieser Autorin, was aber gleichzeitig eine große Hürde in meinem Gemüt sein kann, denn ich tendiere dazu, mich zu sehr bzw. zu lange auf etwas zu freuen und dann um so gnadenloser enttäuscht von dem Resultat zu sein. So eine Einstellung ist natürlich gerade bei AutorInnen und der in diesem Berufszweig standardmäßigen Wartezeit zwischen den Veröffentlichungen im gefühlten Ewigkeitsbereich gefährlich, allerdings muss sich Frau Sezgin da überhaupt keine Sorgen machen, denn auch das neue Buch werde ich definitiv noch sehr oft in die Hand nehmen, um mir Denkanstösse, neue Perspektiven, Bestätigungen und nicht zuletzt einfach exzellente Unterhaltung abzuholen.

Damit diese Besprechung hier keine peinliche Lobpreisungsorgie wird, habe ich mir eigentlich fest vorgenommen, auch die Dinge herauszustreichen, die nicht ganz so gut bei mir angekommen sind und habe da auch direkt den etwas sperrigen Titel „Vom fordernden und beglückenden Leben mit Tieren“ ausgemacht. Dazu war direkt mein erster Gedanke, dass Menschen, die Frau Sezgin noch nicht kennen, nicht unbedingt neugierig gemacht werden und dementsprechend in der Bücherhandlung zum nächsten Regal gehen. Aber erstens kann ich höchstens darüber spekulieren, was fremde Menschen für persönliche Auswahlkriterien besitzen, zweitens hat die Autorin meine sofortige gedankliche Verbesserung „Hilal Sezgins Tierleben“ schon vor Jahren veröffentlicht, und drittens (und vor allem) muss ich einfach zugeben, dass der Titel das Buch perfekt beschreibt und zusammenfasst.

Wobei Zusammenfassungen in einer Überschrift bei Frau Sezgin sowieso unmöglich sind, dazu haben ihre Veröffentlichungen immer eine viel zu große Bandbreite. Ich durfte bereits ihren Roman „Feuerfieber“ vor ein paar Jahren besprechen und damals habe ich unter anderem geschrieben, dass jedes Kapitel des Werks sich als wahre Wundertüte entpuppt. Das kann man auch bedenkenlos diesem Buch bescheinigen, denn es werden zwar 16 Kapitel, eine Einleitung und ein Epilog angeboten, aber trotzdem ist wieder ein buntes Feuerwerk entstanden, von dem die Leserschaft jede Rakete sehen will, von einigen garantiert überrascht wird und andere noch gar nicht aus diesem Blickwinkel im eigenen Gemüt entstanden sind. Dabei ist das Spektakel so faszinierend, dass man auch gerne darüber die Zeit vergisst und verdutzt irgendwann feststellt, dass die Lesestunde ausgeartet ist, weil draußen der neue Tag dämmert. Was eigentlich zumindest in meinem Fall glatt gelogen ist, weil ich schon seit circa 10 Jahren nur noch von durchgemachten Nächten träumen kann und das Sandmännchen bei mir spätestens um 1 Uhr zur Blutgrätsche ansetzt. Ich will damit also nur ausdrücken, dass man das Werk nur schwer zur Seite legen kann, das wohl schönste Kompliment im Erzählbusiness.

Das liegt vor allem auch daran, dass Frau Sezgin unglaublich gut auf unterschiedlichsten Gefühlsklaviaturen spielen kann und das Talent weidlich ausnutzt. Da gibt es die lustigen Momente, in denen ein Mensch zwei Gänsen vermitteln will, was diese als Wassertiere doch bitteschön laut persönlichen Tierrechtsleitfaden für Bedürfnisse zu besitzen haben, was die zwei Tiere aber leider ganz anders sehen. Auch die in einem Kapitel angebotenen (und bestimmt von Experten als absolut realistisch abgesegneten) Übersetzungen aus der Katzensprache laden zum Schmunzeln ein. Ein weiteres Kapitel glänzt mit Vogelhaus-Eroberungsversuchen durch Waschbären, die dort beschriebene Einbrecher-Action degradiert jeden Teil der Filmreihe „Mission Impossible“ zum ZDF-Montagsfilm. An vielen anderen Stellen wird es aber auch hochphilosophisch und die Autorin sinniert zum Beispiel darüber, was man Tieren durch eine Kastration vorenthält, inklusive einem ausgiebigen Ritt über diesen Bereich, der sowohl beim Pro als auch beim Contra haltmacht und bei dem zumindest ich als Leser gar nicht anders konnte, als das Kapitel gleich mehrmals mit wachsender Bewunderung zu konsumieren. Um danach das Thema übrigens aus Mangel an Gesprächspartnern noch total fasziniert und restlos begeistert mit meinem sehr desinteressiert wirkenden Kulturmuffel-Hund zu besprechen, aber das gehört wohl nicht hier hin.

Was dagegen unbedingt noch erwähnt werden muss, ist das Kapitel über die MS-Erkrankung von Frau Sezgin, in der sie erst sowohl diese Krankheit als auch ihre eigene Achterbahngefühlswelt unglaublich nah und berührend schildert, um im gleichen Kapitel das komplexe Gebiet der Tierversuche anzuschneiden, nur um im Kapitelfinale das unzulängliche Verhalten von menschlichen Gesellschaften gegenüber allen Mitgliedern, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht der kranken Norm entsprechen, abzuwatschen. Allein diese Reise sollte das Buch eigentlich verbindlich auf Platz 1 der Spiegel-Bestseller-Liste zementieren, denn mitreißender, tröstender und inspirierender wird dieser Komplex in den nächsten hundert Jahren oder bis zur nächsten Sezgin-Veröffentlichung definitiv nicht mehr besprochen werden.

Auch das Kapitel über Lebenshöfe bzw. der lose rote Faden dazu im ganzen Buch kommt unglaublich vielfältig daher. Immer wenn die Schriftstellerin ihre tierischen Mit- und Anwohner thematisiert, schwappt spätestens nach vier Sätzen pure Liebe aus den Zeilen, viele Anekdoten sind wie erwähnt durchaus lustig, gleichzeitig werden aber auch die Selbstzweifel angesprochen, die unweigerlich aufkommen, wenn man für unzählige Seelen eine lebenslange Verantwortung übernommen hat. Dass so ein Projekt oft härteste Knochenarbeit ist, wird ebenfalls nicht verschwiegen, gleichzeitig kann man aber auch durchaus Ermutigungen herauslesen, weil das ganze Werk von einer Stadtpflanze handelt, die wie die Jungfrau zum Kinde zu einer Schafsherde auf dem Land gekommen ist und mit den Jahren zu einer erfahrenen Expertin bei den unterschiedlichsten Tierarten geworden ist, vielleicht sogar ohne das selber zu sehen bzw. herauszustreichen. Diese Beobachtungen reißen diesem Bereich die romantisch-falsche Tierstreicheltunnelblickmaske herunter, gleichzeitig dienen sie aber auch als Beleg dafür, dass man mit einer realistischen Selbsteinschätzung und enorm viel Einsatz nicht zwangsläufig 8 Semester Landwirtschaft studieren muss, um geretteten Tieren einen sicheren Hafen zu bieten.

Die größte Schwierigkeit in dieser Renzension ist tatsächlich, nicht zu viele Spoiler zu setzen, denn das wäre gemein gegenüber der zukünftigen Leserschaft. Ich würde mich jetzt gerne noch über Einblicke in Welten von Tierarten, die man in diesem Buch gar nicht erwartet hätte, über Nougats, Toffees und andere immer auf unterschiedlichste Arten berührende Geschichten und so viele andere Lieblingsstellen auslassen, aber das würde diese tolle Entdeckungsreise für andere ruinieren. Deshalb kann ich allen nur empfehlen, sich von Frau Sezgin an die Hand nehmen zu lassen, damit sie euch von ihrem fordernden und beglückenden Leben mit Tieren erzählen kann. Es ist völlig egal, ob man dabei in der Phase ist, wo man begeistert mehrere Stunden lang die Kapitel in sich hineinschlingt oder in den Abschnitten, wo man nur ein halbes Kapitel durch hat und die Stunden damit füllt, dass man fasziniert über die eben dazugewonnene neue Perspektive nachgrübelt (und mit seinem genervten Hund durchdiskutiert). Großes Kino ist jede einzelne Seite dieses Buchs, versprochen.


Kategorie: Allgemein

3 Antworten zu “Rezension zum neuen Buch von Hilal Sezgin”

  1. Hilke sagt:

    Du lieber Jens, deine Rezension ist ebenfalls ganz großes Kino! Wer jetzt nicht SOFORT zum Shop flitzt um es zu kaufen, der kann höchstens grad schlafen. Aber dann!
    Danke für den Appetizer 🙂

  2. Silke sagt:

    Danke Jens, für diese tolle Rezension! Wenn ich nicht sowieso schon ein begeistertes Hilal Sezgin- Fangirl wäre, spätestens jetzt wäre ich es ❤

  3. Ira sagt:

    Das Buch kann nur gut sein…..

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